P. Willisch: Die Einbürgerung der Heimatlosen

Titel
Die Einbürgerung der Heimatlosen im Kanton Wallis (1850– 1880).


Autor(en)
Willisch, Patrick
Erschienen
Visp 2004: Rotten Verlag
Anzahl Seiten
448 S.
Preis
URL
von
Pascale Steiner

Im 16. Jahrhundert setzt sich in der Eidgenossenschaft zunehmend das Prinzip der heimatlichen Armenpflege durch; jeder Ort hat die Pflicht, für seine Armen aufzukommen. Aus unterschiedlichsten Gründen wird das sogenannte Bürger oder Heimatrecht gewissen Personen nicht zu- oder gar aberkannt. Es entsteht eine heterogene Gruppe von sogenannten Heimatlosen mit eingeschränkten politischen, sozialen und ökonomischen Rechten. Sie haben keinen Anteil an den Nutzungsrechten der Gemeinde und kein Recht auf Armenunterstützung. Zudem ist ihre Freiheit, sich niederzulassen, und die Möglichkeit, eine eheliche Verbindung einzugehen, eingeschränkt. Für die Kantone ist die territoriale Zuordnung der Armen zudem ein wirksames Kontrollinstrument, welches erlaubt, unliebsame Personen fernzuhalten, beziehungsweise auszuweisen. Obwohl sich bereits während der Helvetik zahlreiche Kantone darum bemühen, die Heimatlosigkeit zu bekämpfen, legt erst das eidgenössische Heimatlosengesetz von 1850 den Grundstein für die einheitliche rechtliche Einbindung: Der Bund teilte den Gemeinden Heimatlose zu, was z.B. im Kanton Wallis auf beträchtlichen Widerstand stösst.

Die Arbeit von Patrick Willisch beschäftigt sich mit der Einbürgerung der Heimatlosen im Kanton Wallis. Im ersten Teil umreisst der Autor die Politik, die Wirtschaft und die Gesellschaft zwischen 1798 und 1880. Er hält fest, dass die agropastorale Produktionsweise im Wallis bis ins 20. Jahrhundert den wichtigsten Erwerbssektor darstellte und dass dabei das Kollektiveigentum und die daran gebundenen bürgerlichen Nutzungsrechte eine zentrale Rolle spielten. Heimatlose, denen der Zugang zu diesen Ressourcen verwehrt blieb, mussten sich in subsitenzfernen Erwerbszweigen betätigen. Der zweite Teil der Arbeit beschäftigt sich mit der allmählichen Besserstellung und der schliesslich vollständigen rechtlichen Gleichstellung der Walliser Heimatlosen. Mit vielfältigen Strategien leisteten ins besondere bessergestellte Walliser Gemeinden gegen das eidgenössische Heimatlosengesetz Widerstand. Einige reiche Bürgergemeinden versuchten gar, die ihnen zugeteilten Heimatlosen gegen Entschädigung in peripheren Gemeinden einzubürgern. Die vielfältigen Verweigerungsstrategien führten dazu, dass der Kanton Wallis die Einbürgerungen der Heimatlosen als letzter Schweizer Kanton vollzog. Im dritten Teil macht der Autor mittels eines Schnitts um 1870 statistische Aussagen über die Herkunft und die Berufe der Heimatlosen. Im vierten Teil rekonstruiert er anhand von Fallbeispielen die Geschichte ausgewählter Familien aus der Innerschweiz, Baden-Württemberg, dem Tirol, Vorarlberg, Savoyen und dem Piemont.

Im Zentrum der Betrachtung stehen nicht die fahrenden, sondern die sesshaften Heimatlosen. Aufgrund zahlreicher Ehen zwischen Heimatlosen und Einheimischen geht der Autor davon aus, dass die Mehrheit im Wallis lange vor den durch den Bund auferlegten Einbürgerungen sesshaft war und als assimiliert betrachtet werden konnte. Aus dieser Perspektive interpretiert der Autor das eidgenössische Heimatlosengesetz nicht als Disziplinierungsprozess, welcher den Lebensraum und die Freiheit der Heimatlosen radikal einschränkte, sondern als Abschluss eines langwierigen Emanzipationsprozesses, in welchem einflussreiche Heimatlose letztlich selbst eine aktive Rolle spielten. Seine Ausführungen verdeutlichen das janusköpfige Verhalten der kantonalen Akteure: Mit fadenscheinigen rhetorischen Mitteln versuchte die kantonale Exekutive, sowohl den Bedürfnissen des Bundes als auch jenen der Gemeinden gerecht zu werden, während die kantonale Legislative keine Möglichkeit ungenutzt liess, um den Vollzug des Bundesgesetzes zu verzögern.

Zu wenig geklärt bleiben indes die Interessen des Bundes und der Gemeinden. Was bewog den jungen Bundesstaat im Anschluss an seine Gründung dazu, die Einbürgerung der Heimatlosen voranzutreiben? Handelt es sich um eine nationalstaatliche Strategie zur Homogenisierung der Bevölkerung in einem durch soziale Ungleichheiten geprägten Modernisierungsprozess? Und warum hat der Bundesrat mit derart grosser Beharrlichkeit auf ein kantonales Heimatlosengesetz bestanden, das die Zielsetzungen des Bundes angemessen umzusetzen vermochte? An verschiedenen Stellen wird darauf hingewiesen, dass die Heimatlosen im Kanton sozial und wirtschaftlich integriert waren. Dennoch stiess ihre volle rechtliche Einbindung in zahlreichen Gemeinden auf Widerstand. Der Autor deutet dieses Verhalten mit den beschränkten und für die agropastorale Subsistenzweise unerlässlichen Gütern und mit Existenzängsten, welche die Einbürgerung der Heimatlosen in den Gemeinden auslöste. Diese Deutung steht jedoch in einem Widerspruch zur Tatsache, dass sich insbesondere reiche Gemeinden gegen das eidgenössische Heimatlosengesetz zur Wehr setzten. Welche impliziten Beweggründe mochten das Verhalten der Verantwortlichen in den Bürgergemeinden leiten?

Die Frage der Heimatlosen ist ein nationales Phänomen mit unterschiedlichen lokalen Ausprägungen. Patrick Willisch legt mit seiner Arbeit über das Wallis eine lesenswerte Detailstudie vor. Er zeigt auf, wie differenziert sich die Zugänge zu sozialen, wirtschaftlichen und politischen Ressourcen für verschiedene Heimatlosen-Kategorien ausgestalteten und wie sich diese Zugänge im Laufe der Zeit allmählich öffneten. Die Studie bleibt jedoch bis zum Schluss beschreibend, die Analyse und die gesellschaftstheoretische Einordnung der Ergebnisse überlässt der Autor den Lesenden.

Zitierweise:
Pascale Steiner: Rezension zu: Patrick Willisch: Die Einbürgerung der Heimatlosen im Kanton Wallis (1850–1880). Visp, Rotten Verlag, 2004. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 55 Nr.2, 2005, S. 233-234.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 55 Nr.2, 2005, S. 233-234.

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